In diesem Artikel schildert Frau Werner ihre Eindrücke von der Kirche St. Marien.
Von weitem schon sehe ich diesen markanten Kirchturm aus rotem Backstein, dem nach dem Krieg die Spitze gekappt wurde – ein Denkmal, wie die Tafel neben dem Haupteingang verkündet, dem die Bombenangriffe des zweiten Weltkriegs nicht den Garaus machen konnten. Unter dem Turm gehe ich klein durch das ehrfurchtgebietende Spitzbogenportal wie in eine andere Welt. Die schwere Tür fällt hinter mir langsam ins Schloss und ich bin umgeben von dieser so typischen halbdunklen Atmosphäre vieler großer alter Kirchen, die mich vom Lärm und der Betriebsamkeit der Welt da draußen abschottet.
Ich fühle mich wie „in Abrahams Schoß“ – auch beim Blick durch die Glastür des Vorraums zum Altarraum mit dieser fensterlosen, warm - tonfarbenen Rückwand.
Ein Blick nach links: Fast automatisch wird sie übersehen in dem dunklen Seitenraum, die kleine Pietá – Mutter Gottes, ihren toten Sohn auf dem Schoß, in stiller verschwiegener Trauer… - Sie drängt sich nicht auf; es bedarf einer ganz bewussten Entscheidung, diesen dunklen Raum mit dem kleinen in Blautönen leuchtenden Rundfenster zu betreten, das Licht einzuschalten und dort bei der Namenspatronin dieser Kirche in ihrem Schmerz einige Augenblicke zu verweilen.
Ich trete in den großen Kirchenraum ein und denke: Hier passt etwas nicht zusammen! Nach dem alt-ehrwürdigen Eingang befinde ich mich in einer riesigen Halle – Pfeiler aus Waschbeton – rechts und links in großer Höhe Fenster aus drahtverstärktem Industrieglas, schmutzig grau verschwommen - … Das ist doch eine Fabrikhalle! - Conti, VW, Varta oder so ... - mit ein wenig Phantasie hört man kreischenden Maschinenlärm, riecht man Schweiß und giftige Dämpfe… - Wird man in diesem Raum nicht trübsinnig, gar depressiv??
Suchen Menschen in ihrer Religion beim Besuch einer Kirche, eines Gottesdienstes nicht eine schönere, eine heile Welt? Eine Flucht aus dem Arbeitsalltag, einen himmlischen Trost? - Hier werden sie ent-täuscht! Der Alltag ist anwesend, die „Fabrikhalle“ ist der Raum, in dem Gott da ist, sagt das kleine Licht vorn neben dem Tabernakel.
Fenster, zu hoch und zu trüb, um durchzublicken, unterteilt in kleine Rechtecke, wie vergittert – aber in den Kreuzungspunkten leuchtet das Blau des Himmels… Es sind abgebrochene Glasstäbe in vielfältigen Blautönen, die senkrecht durch die grauen Schlieren der Fenster gesteckt sind, von innen nach außen oder umgekehrt, wie Lanzen, die das Alltagsgrau durchbohren, um dem Himmel Einlass zu verschaffen… - oder um zu ihm vorzustoßen… --
Ist das ein Sinnbild für unser Leben und Glauben, dass einer für uns „eine Lanze bricht“, damit unsere Dämmerung, unsere Sorge und Mühe, unsere Angst… den Himmel kennenlernt – gerade dort, wo die schwarzen Linien sich kreuzen?
Ich sehe vorn die Madonna mit dem Kind, strahlend im Gold, gekrönt zur Himmelskönigin – und langsam begreife ich, dass sie – Maria – die Mutter Jesu – ganz Mensch ist, wie wir. Unser ganzes Leben und unsere ganze Zukunft liegt in dieser Spannung zwischen dem stummen Schmerz der Pietá hinten links und der leuchtenden Erscheinung der gekrönten Madonna vorne rechts! Es ist unser Schmerz, der uns so winzig und stumm werden lässt, wenn wir unsere Hoffnungen zu Grabe tragen müssen – und es ist unsere Vollendung, die uns aufrichten wird, wenn wir uns einlassen auf das scheinbar Unmögliche, - wenn wir ja sagen zum Wunsch Gottes, in uns zur Welt zu kommen, mitten in unser bedüftiges, unvollkommenes Leben, - wenn wir in aller scheinbaren Vergeblichkeit die Hoffnung nicht verlieren, sondern Gottes Zusage vertrauen!
Der Kirchenraum spricht das „Dazwischen“ auf seine eigene Weise aus – ohne Schnörkel und Beschönigungen – ganz ehrlich, ganz schlicht und ganz eindringlich!
Es ist an uns, diesen Raum mit Leben zu füllen…
M. Werner